„Es gibt viele Arten zu töten. Man
kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von
einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen
durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg
führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“ - Bert Brecht.
» Nicht nur das. Man kann einen Menschen auch auf
verschiedene Arten beeinflussen, ängstigen, manipulieren, verschrecken und dazu
bringen, sich Einflüssen zu unterwerfen, die seinen vitalen Interessen
diametral entgegenstehen. Nur, dass das eben nicht folgenlos bleibt ... Da der
Neoliberalismus nur in dem Maße wirkmächtig sein kann, wie es ihm gelingt,
Menschen ihren eigenen Interessen und ihren sozialen Zugehörigkeiten zu
entfremden, benötigt er geeignete Disziplinierungsinstrumente, um die
psychischen und sozialen Folgen dieser Entfremdung unter Kontrolle zu halten
... Als ökonomische Theorie weist der Neoliberalismus so viele interne
Widersprüche und Inkonsistenzen auf, dass er längst daran hätte zugrunde gehen
müssen – er ist eine Art intellektueller Pathologie ... der Neoliberalismus ist
völlig immun gegen Argumente, ihm genügt es, dass er politisch wirkmächtig ist
... Die armen Länder müssen sich der „Marktdisziplin“ unterwerfen und ihre
Märkte für transnationale Konzerne öffnen, für die sie dann ein Reservoir billiger
Arbeitskräfte und Rohmaterialien werden, die reichen Länder betreiben
Protektionismus. So sieht die Realität des „freien Marktes“ aus ... Der
Neoliberalismus erzeugt weltweit ein Desaster nach dem anderen. Aus jedem
Desaster kommt er jedoch – in scheinbar paradoxer Weise – gestärkt hervor und
wird sogleich wieder als “Therapie“ empfohlen. Offensichtlich nährt der
Neoliberalismus nicht nur Krisen, sondern er nährt sich geradezu von Krisen und
schlägt dabei noch aus seinen inneren Widersprüchen und Inkonsistenzen Kapital
... Tatsächlich zielt der Neoliberalismus gar nicht auf “freie Märkte“. Er
zielt vielmehr auf eine radikale Umverteilung, und zwar von unten nach oben,
von der öffentlichen in die private Hand und von Süd nach Nord ... Er ist eine
Revolution der Reichen gegen die Armen. Da die Armen aber die Mehrheit bilden,
ist natürlich besonders in Demokratien eine solche Revolution mit Risiken
behaftet. Es hilft daher außerordentlich, wenn man die Bevölkerung atomisiert,
alle sozialen Bewegungen fragmentiert und partikularisiert und zugleich als
Nutznießer der Umverteilung ein neues Klassenbewusstsein entwickelt ... in
einer Demokratie ist es wichtig, dass das eigentliche Ziel einer Umverteilung
von unten nach oben für die Bevölkerung durch eine geeignete Indoktrination
verdeckt und unsichtbar gemacht wird ... In Demokratien wäre der
Neoliberalismus politisch nicht überlebensfähig, wenn es ihm nicht gelänge, die
Köpfe zu erobern und die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu formen und zu
kontrollieren. Dies kann nur auf der Basis von Indoktrinationssystemen
geschehen, die psychologisch äußerst ausgefeilt sind und alle Bereiche unseres
Lebens durchziehen ... Sie sind inzwischen so tief in allen Bereichen des
gesellschaftlichen und auch privaten Lebens verankert, dass sie uns kaum noch
auffallen ... Gute Indoktrination, das war schon den Pionieren der Propaganda
klar, darf nicht als solche erkennbar sein und muss
geradezu als Selbstverständlichkeit oder Ausdruck des gesunden
Menschenverstandes erscheinen.“ - Rainer
Mausfeld, Psychologe,
Mathematiker und Philosoph, Professor für Allgemeine Psychologie an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs-
und Kognitionsforschung ...
Der Neoliberalismus ist, will er auf den demokratischen
Anschein nicht verzichten, also geradezu darauf angewiesen, dass die
Umverteilungsmechanismen von unten nach oben und von der öffentlichen in die
private Hand auf allen Ebenen – von der EU bis zu den Kommunen – zunehmend
verrechtlicht werden. Besonders die Schaffung eines geeigneten internationalen
Rechts ist dabei erfolgversprechend. Daher bemüht sich eine transatlantische
Nomenklatura um die Entwicklung geeigneter internationaler Rechtsnormen wie
eben TTIP, TISA, CETA etc. und um deren Umsetzung durch machtvolle neoliberale
Institutionen wie den IWF ... Eine Verrechtlichung von gesellschaftlichem
Unrecht muss, aus naheliegenden Gründen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit,
auch der parlamentarischen, erfolgen und jeder Art von demokratischer Kontrolle
entzogen sein. Zusätzlich zu einer Verrechtlichung schafft der Neoliberalismus
Mechanismen, durch die sich die von ihm geschützten Marktteilnehmer, also vor
allem die Großkonzerne, bestehenden Rechtsnormen entziehen können. Die Maxime
“too big to fail“ hat ja einen tieferen Kern. Nämlich, dass es Verbrechen gibt,
deren Wurzeln zu tief mit Grundlagen unserer herrschenden Ordnung verwoben sind
und die zu monströs sind, als dass sie innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung
überhaupt justitiabel sein könnten. Daher gilt die sogenannte Finanzkrise eben
als “Krise“ und nicht als das, was sie tatsächlich ist, nämlich im Wortsinne
ein „Kapitalverbrechen“ ... Die Verrechtlichung neoliberaler Strukturen stellt
also eine Art Samthandschuh unter den Herrschaftstechniken dar, durch den sich
offen autokratische Formen erst einmal vermeiden lassen. «
Rainer Mausfeld, Psychologe, Mathematiker und
Philosoph, Professor für Allgemeine Psychologie an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs-
und Kognitionsforschung.
„Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56
Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das
locker in gut einem Jahr.“ – Jean Ziegler, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter
für das Recht auf Nahrung.
» Der Neoliberalismus ist – nach dem europäischen
Kolonialismus – das größte globale Umverteilungsprojekt der Geschichte. Global
kontrollieren die 500 größten Konzerne mittlerweile mehr als 50 Prozent des
Weltbruttosozialprodukts. Die 85 reichsten Personen der Welt besitzen, wie
Oxfam jüngst mitteilte, mehr als die ärmsten 50 Prozent der Weltpopulation
zusammen, also als die ärmsten 3,6 Milliarden Menschen auf dieser Welt. Und
bald werden die reichsten ein Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtreichtums
der Welt besitzen ... Die alte Strategie, die gewaltigen sozialen und ökologischen
Folgekosten des Kapitalismus, besonders seiner neoliberalen Extremform,
späteren Generationen aufzubürden, kommt an ihre natürlichen Grenzen. Es
bleiben uns wohl nur zwei Möglichkeiten: Wir befreien uns, so mühsam es sein
wird, aus den Fesseln neoliberaler Indoktrinationssysteme, stellen uns den
Fakten und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten von Änderungen – die freilich
angesichts des ökologischen Zeitdrucks nur radikal sein können. Oder wir machen
weiter wie bisher, schweigen und überlassen es nachfolgenden Generationen über
die Gründe unseres Nicht-Handels und unseres Schweigens nachzudenken ... die
Gefahr, sie dadurch politisch weitgehend wirkungslos zu machen, dass sie sich
nicht auf strukturelle Aspekte, sondern allein auf “die da oben“, also auf
personelle Aspekte richten.
Bei gesellschaftlichen und politischen Themen ist ja die
Perspektive weit verbreitet, den Blick auf “die da oben“ zu beschränken und
sich darüber zu empören, wie man von diesen betrogen, hintergangen und
ausgebeutet wird: “Die da oben“ sind moralisch verkommen, verlogen und schamlos
auf ihren Vorteil bedacht, sie sind die Täter; wir hingegen sind nur ihre
Opfer.
Das ist eine psychologisch nachvollziehbare und politisch
durchaus berechtigte Perspektive. Da sie von der überwiegenden Mehrzahl der
Bevölkerung in der einen oder anderen Weise geteilt wird, ohne dass sich dies
in entsprechender Weise in den Ergebnissen von Wahlen niederschlägt, sollten
wir aber darüber nachdenken, ob nicht die politische Wirkungskraft einer solchen
Perspektive sehr begrenzt ist.
In jedem Fall geht eine Beschränkung des Blicks auf “die da oben“ vorbei an der Natur des tatsächlichen Problems, um das es geht, nämlich an den strukturellen und institutionellen Ursachen einer zerstörerischen und inhumanen Wirtschafts- und Gesellschaftsform.
In jedem Fall geht eine Beschränkung des Blicks auf “die da oben“ vorbei an der Natur des tatsächlichen Problems, um das es geht, nämlich an den strukturellen und institutionellen Ursachen einer zerstörerischen und inhumanen Wirtschafts- und Gesellschaftsform.
Daher ist es aus Sicht der herrschenden Eliten sogar gewollt
und erwünscht, dass sich die Bevölkerung über die Gier von Bankern, die
Verlogenheit von Politikern, die intellektuelle Korruptheit von Journalisten
oder die Grausamkeit oder den Sadismus von Folterexperten ereifert – also über
Eigenschaften von Personen, die gerade das Produkt tieferliegender,
struktureller Bedingungen sind und in deren Kontext geradezu
Qualifikationsmerkmale darstellen – und dabei die strukturellen und
institutionellen Ursachen und somit die eigentlichen Zentren der Macht aus dem
Blick verliert!
Unsere vordringliche Aufgabe ist es daher, Einsichten in diese strukturellen Bedingungen zu gewinnen. Dazu gehört auch, das Wesen und die eigentlichen Ziele des Neoliberalismus zu verstehen. Dann aber müssen wir den Blick auch auf uns richten und uns fragen, warum wir auf ein totalitäres Denksystem mit so zerstörerischen Folgen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung und entsprechenden Handlungskonsequenzen reagieren. Solange die herrschenden Eliten sehr viel mehr Wissen über uns, über unsere natürlichen Bedürfnisse, Neigungen und unsere Schwachstellen für eine Manipulierbarkeit verfügen als wir selbst, solange werden sie über uns eine Form der unsichtbaren Herrschaft ausüben können, gegen die wir uns kaum wehren können. Den Blick auf uns zu richten, bedeutet zugleich zu erkennen – und das ist ganz im Sinne der Aufklärung –, dass wir es sind, die für unser Handeln und Nicht-Handeln und für die Gesellschaft, in der wir leben, verantwortlich sind. «
Unsere vordringliche Aufgabe ist es daher, Einsichten in diese strukturellen Bedingungen zu gewinnen. Dazu gehört auch, das Wesen und die eigentlichen Ziele des Neoliberalismus zu verstehen. Dann aber müssen wir den Blick auch auf uns richten und uns fragen, warum wir auf ein totalitäres Denksystem mit so zerstörerischen Folgen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung und entsprechenden Handlungskonsequenzen reagieren. Solange die herrschenden Eliten sehr viel mehr Wissen über uns, über unsere natürlichen Bedürfnisse, Neigungen und unsere Schwachstellen für eine Manipulierbarkeit verfügen als wir selbst, solange werden sie über uns eine Form der unsichtbaren Herrschaft ausüben können, gegen die wir uns kaum wehren können. Den Blick auf uns zu richten, bedeutet zugleich zu erkennen – und das ist ganz im Sinne der Aufklärung –, dass wir es sind, die für unser Handeln und Nicht-Handeln und für die Gesellschaft, in der wir leben, verantwortlich sind. «
Rainer Mausfeld,
Psychologe, Mathematiker und Philosoph, Professor für Allgemeine Psychologie an
der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, arbeitet im Bereich der
Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.
Alle Zitate aus einem Gespräch auf www.nachdenkseiten.de/?p=30286
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