Aus einem Essay von Götz Eisenberg, Sozialwissenschaftler
und Publizist
12.11.2016
Die Versteinerung der Herzen
"Vielleicht wacht nun auch die europäische Sozialdemokratie
wieder auf, wenn sie sieht, wie es ausgeht, wenn man immer nur ein Prozent der
Gesellschaft bedient, in den Arsch kriecht und immer reicher macht? ... Unter
unseren Augen entsteht ein durch und durch kapitalistischer Menschentyp, der
zur Einfühlung in andere unfähig und dessen Innenwelt eine einzige
Gletscherlandschaft ist. Was heute noch als »Psychopathie« diagnostiziert und
pathologisiert wird, droht, wenn sich die Verhältnisse nicht grundlegend
ändern, in einer nicht allzu fernen Zukunft zur Normalität und zum hegemonialen
Sozialcharakter zu werden ... Der Tauschwert ist seinem Wesen nach grenzenlos,
wie schon Aristoteles erkannt hat. Der Kapitalismus, der sich aus ihm
entwickelt, ist ein System, das in ständiger Bewegung sein muss, ständige
Überschreitung und das Niederreißen aller Begrenzungen gehören zu seinem Wesen
... Die Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir für die eigentlich menschlichen
halten, bedürfen der äußeren Stützung. Auch und gerade aus diesem Grund
brauchen wir, solange wir unter kapitalistischen Bedingungen leben, einen voll
entfalteten und handlungsfähigen Sozialstaat ... Er fördert in den Phasen, wo
er nicht nur propagiert, sondern praktiziert und gelebt wird, Tugenden wie
Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein, gegenseitige Hilfe und Solidarität.
Umgekehrt begünstigt seine Schleifung die in der Grundstruktur der
kapitalistischen Gesellschaft verankerten Tendenzen zu Aggression, Feindseligkeit
und zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit ... In Krisenzeiten wachsen
Gleichgültigkeit und Kälte umso nachdrücklicher, je verdunkelter die
Perspektiven der Krisenlösung sind. Wo sich aber der »Kältestrom« (Ernst Bloch)
verbreitert, sind in der Regel auch die Brandfackeln nicht weit ... Kälte- und
Wärmeströme entspringen dem Zentrum der Gesellschaft; was an den Rändern
passiert, ist davon abgeleitet. Deswegen benötigen wir eine solidarische
Ökonomie, ... deren Ziel nicht der Profit, sondern die Befriedigung
menschlicher Bedürfnisse ist.“
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